Die ethische Haltung Albert Schweitzers

Vortrag für „Künstlerhort“ in Verbindung mit Städtischem Kulturamt Wiesbaden, gehalten am 4.12.1979 von Rainer Noll in der Villa Clementine Wiesbaden

Sehr geehrte Damen und Herren!

An den Anfang stelle ich Fragen: Was ist der Sinn meines Daseins und welchen Inhalt soll mein Leben haben? „Was bedeutet die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich selber in der Welt? Was wollen wir in ihr? Was erhoffen wir von ihr?“ (K I, S. 63)

Ich glaube, keiner von uns kann sagen, von diesen Fragen völlig unberührt geblieben zu sein. Den einen bedrängen sie mehr, den anderen weniger – der eine verdrängt sie mehr, der andere weniger. Es ist spezifisch menschlich, diese Fragen zu stellen. Der Wille zum Sein verbindet sich beim Menschen unlösbar mit einem Willen zum Sinn. Das Denken der Menschheit ringt in Philosophie und Religion seit Jahrtausenden um diese Fragen. Es handelt sich um Kernfragen unserer Existenz. Von ihrer Beantwortung hängt unser Verhältnis zur Welt, unsere Weltanschauung ab. Weitab von konfessioneller Engstirnigkeit berühren diese Fragen die Religiosität des Menschen. Denjenigen, der eine Antwort auf sie gefunden hat, nennt Albert Einstein religiös. Paul Tillich sagt: „Religiös sein heißt, leidenschaftlich die Frage nach dem Sinn unserer Existenz zu stellen.“ (zitiert nach V. E. Frankl, Das Leiden am sinnlosen Leben, S. 95). 

Gerade Albert Schweitzer stellte unerbittlich diese Frage – vielmehr:  Er stellte sich mit seiner ganzen Existenz dieser Frage, ohne auszuweichen: „Um aus dem Sinnlosen, das uns gefangen hält, wieder zum Sinnvollen zu gelangen, gibt es keinen anderen Weg, als dass ein jeder wieder auf sich selbst zurückkehrt, und dass wir alle miteinander darüber nachdenkend werden, in welcher Weise sich unser Wille zum Wirken und zum Fortschritt aus einem Sinn, den wir unserem Leben und dem Leben um uns herum geben, herleitet. Die große Revision der Überzeugungen und Ideale (…) kommt nur so in Gang, dass die Vielen über den Sinn des Lebens nachdenkend werden und ihre Ideale des Wirkens und des Fortschritts danach orientieren, revidieren und erneuern, ob sie im Sinne, den wir unserem Leben geben, sinnvoll sind. – Diese Selbstbesinnung auf das Letzte und Elementarste ist der einzige verlässliche Wertmesser. Nur in dem Maße, als sich die Ziele, die sich das Wirken setzt, aus dem Sinne meines und anderen Lebens rechtfertigen lassen, ist mein Wollen und Tun sinnvoll und wertvoll. Alles andere, mag es durch Überlieferung, Gewöhnung und öffentliches Ansehen noch so viel gelten, ist eitel und gefahrvoll.“ (KI/75)

Mit diesem elementaren Denken befand sich Schweitzer in vollständigem Widerspruch zum Geist der Zeit, da dieser von Missachtung dieses Denkens erfüllt sei (s. LD/181): „Ohne uns über die Welt und unser Leben ins klare kommen zu lassen, jagt uns der Geist unserer Zeit ins Wirken hinaus. Unablässig nimmt er uns für diese und jene Ziele und für diese und jene Errungenschaften in Dienst. Er erhält uns im Tätigkeitstaumel, damit wir ja nicht zur Selbstbesinnung kommen und uns fragen, was dieses rastlose Hingeben an Ziele und Errungenschaften eigentlich mit dem Sinn der Welt und dem Sinn unseres Lebens zu tun habe. So ziehen wir als heimatlose, trunkene Söldner im zunehmenden Dunkel der Weltanschauungslosigkeit dahin und lassen uns ebenso gut für das Gemeine wie für das Hohe anwerben.“ (KI/73f)

„Es wird unbegreiflich bleiben, dass unser durch Errungenschaften des Wissens und Könnens so groß dastehendes Geschlecht geistig so herunterkommen konnte, auf das Denken zu verzichten.“ (LD/184) „Fortgeschrittenstes Wissen verträgt sich jetzt mit gedankenlosester Weltanschauung.“ (KI/58) „Verzicht auf Denken ist geistige Bankrotterklärung.“ (LD/184)

Schweitzer weist auf das Versagen nicht nur der weltlichen und kirchlichen Organisationen, sondern auch der Menschen, die als bedeutend angesehen werden, hin: auf Gelehrte und Künstler, die sich in Unkultur hervortun, und auf Berühmtheiten, die als Denker gelten und sich als solche gebärden, um bei entscheidenden Gelegenheiten doch nur als bloße Schriftsteller und Akademiemitglieder vor uns zu stehen (s. KI/62). So konstatiert er: „Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur.“ (KI/15) Die Umstände tragen dazu bei, den modernen Menschen zu einem ungeistigen Wesen zu machen, das in seiner Überbeschäftigung mehr und mehr dem Bedürfnis nach äußerlicher Zerstreuung verfällt: „Die ihm bleibende Muße in der Beschäftigung mit sich selbst oder in ernster Unterhaltung mit Menschen oder Büchern zu verbringen, erfordert eine Sammlung, die ihm schwer fällt. Absolute Untätigkeit, Ablenkung von sich selbst und Vergessen sind ein physisches Bedürfnis für ihn. Als ein Nichtdenkender will er sich verhalten. Nicht Bildung sucht er, sondern Unterhaltung, und zwar solche, die die geringsten geistigen Anforderungen stellt. (…) Das Theater tritt hinter dem Vergnügungs- oder Schaulokale zurück und das gediegene Buch hinter dem zerstreuenden. Zeitschriften und Zeitungen haben sich in steigendem Maße in die Tatsache zu finden, dass sie alles nur in der leichtestfasslichen Form an den Leser heranbringen dürfen.“ (KI/25) Der moderne Mensch, mit seinem herabgesetzten Bedürfnis zum Denken, ist für Schweitzer eine pathologische Erscheinung (s. KI/70).

Hier ist es interessant, einige Äußerungen des bekannten Wiener Psychotherapeuten Viktor E. Frankl zu hören, der die sogenannte „Logotherapie“ entwickelt hat: „Wir leben im Zeitalter eines um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls.“ (S. 30) „Tatsächlich sind wir heute nicht mehr wie zur Zeit von Freud mit einer sexuellen, sondern mit einer existentiellen Frustration konfrontiert. Und der typische Patient von heute leidet nicht mehr so sehr wie zur Zeit von Adler an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern an einem abgründigen Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem Leeregefühl vergesellschaftet ist – weshalb ich von einem existentiellen Vakuum spreche.“ (S. 11)

„Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muss, und im Gegensatz zum Menschen von gestern sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er soll. Nun, weder wissend, was er muss, noch wissend, was er soll, scheint er oftmals nicht mehr recht zu wissen, was er im Grunde will. So will er denn nur das, was die anderen tun – Konformismus! Oder aber er tut nur das, was die anderen wollen – von ihm wollen – Totalitarismus.“ (S. 13) Ein interessantes Untersuchungsergebnis, das Viktor E. Frankl berichtet: „(…) es zeigte sich (…), dass unter den Besuchern des berühmten Wiener Praters, also eines Vergnügungsparks, der objektivierte Pegel existentieller Frustration signifikant höher war als in der Wiener Durchschnittsbevölkerung (…). Mit anderen Worten, der Mensch, der so besonders auf Genuss und Vergnügen aus ist, erweist sich letzten Endes als einer, der hinsichtlich seines Willens zum Sinn, also (…) in seinem ,primären‘ Anliegen, frustriert geblieben war.“ (S. 18f, alle Zitate aus „Das Leiden am sinnlosen Leben“ von V. E. Frankl).

Schweitzer wird hier ein halbes Jahrhundert nach seinen kulturkritischen Äußerungen vom Begründer der sogenannten „dritten Wiener Richtung der Psychotherapie“ (nach der Psychoanalyse Freuds und der Individualpsychologie Adlers) voll bestätigt, was für den enormen Weitblick Schweitzers spricht, gewisse Tendenzen bereits in ihrem Keim voll zu erfassen.

Noch einmal: Für Schweitzer ist die Zeit, in die er hineingeboren wurde, eine Zeit des geistigen Niedergangs. Wie kommt er zum Nachdenken über die Kultur und zu welchem Ergebnis gelangt er?

Den Sommer 1899 verbrachte Schweitzer mit philosophischen Studien in Berlin. Dort kam er im Hause der Witwe des Hellenisten Ernst Curtius mit Führern des geistigen Lebens des damaligen Berlin zusammen. In diesem Haus fiel eines Abends in einem Gesprächskreis das Wort: „Wir sind ja doch alle nur Epigonen!“ Es schlug neben Schweitzer ein wie ein Blitz, weil das dem Ausdruck gab, was er selber empfand. Von diesem Abend an war er innerlich mit einem Werk beschäftigt, das er „Wir Epigonen“ betitelte. (Hier ist es interessant, dass im neuen Taschenbuch-Fahrplan der Herder-Bücherei in der Reihe „Initiative“ für März 1980 ein Buch mit dem Titel „Unser Epigonen-Schicksal – Nichts Neues unter der Sonne“ angekündigt ist.) Schweitzers „Wir Epigonen“ war als eine Kritik an der Kultur gedacht. Fünfzehn Jahre später, 1914, wurde Schweitzer als deutscher Staatsangehöriger auf französischem Kolonialgebiet zum Kriegsgefangenen erklärt und in seinem Haus in Lambarene unter Arrest gestellt. Bereits am zweiten Tag seiner Internierung begann er dieses Werk für sich niederzuschreiben, das ihn während der ganzen Jahre nicht losgelassen hatte. Doch schon ein Jahr später fragte er sich: Warum eigentlich mitten in der Katastrophe nur Kritik an der Kultur? Warum nicht auch aufbauende Arbeit? Und nun begann er, über die Grundlagen der Kultur und ihre Erneuerung nachzudenken.
In Bezug auf den kulturellen Niedergang, dessen Ergebnis für Schweitzer unter anderem der Weltkrieg war, konstatiert Schweitzer: „Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.“ (KI/17) Sie philosophierte über alles, nur nicht über die Grundlagen der Kultur und über die elementaren Fragen der Menschen. „Fast wurde Philosophie zur Geschichte der Philosophie. Der schöpferische Geist hatte sie verlassen (…). Auf Schulen und Hochschulen spielte sie noch eine Rolle; aber der Welt hatte sie nichts mehr zu sagen.“ (KI/20) Weil sie sich mit den Lebensproblemen, die die Menschen und die Zeit beschäftigten, nicht auseinandersetzte, unterhielt sie keine Elementarphilosophie, die zur Popularphilosophie werden konnte.

Was versteht Schweitzer unter Popularphilosophie? Nicht „eine für den Gebrauch der Menge hergestellte, vereinfachte und dementsprechend verschlechterte Übersicht“ über die von der „Fachphilosophie“ gesichteten und auf eine kommende Weltanschauung zugeschnittenen Ergebnisse der Einzelwissenschaften. Popularphilosophie entsteht für ihn daraus, „dass die Philosophie auf die elementaren, innerlichen Fragen, die die Einzelnen und die Menge denken oder denken sollen, eingeht, sie in umfassenderem und vollendeterem Denken vertieft und sie so der Allgemeinheit zurückgibt.“ (KI/20f) Die Philosophie soll also radikal auf elementares Denken zurückgeführt werden. „Elementar ist das Denken, das von den fundamentalen Fragen des Verhältnisses des Menschen zur Welt, des Sinnes des Lebens und des Wesens des Guten ausgeht. In unmittelbarer Weise steht es mit dem sich in jedem Menschen regenden Denken in Verbindung. Es geht auf es ein und erweitert und vertieft es.“ (LD/186)

Unelementar dagegen ist für Schweitzer alles Denken, das die Frage des Verhältnisses des Menschen zur Welt nicht zum Mittelpunkt hat. „Die kommende Weltphilosophie“, so prophezeit er, „wird nicht so sehr in der Auseinandersetzung zwischen europäischem und nichteuropäischem Denken als in der zwischen elementarem und nichtelementarem Denken entstehen.“ (LD/188f)

Neben der Unfreiheit des modernen Menschen durch Entfremdung von seiner Arbeit, seiner Überbeschäftigung und seiner zunehmenden Spezialisierung gilt Schweitzers Kritik besonders den Organisationen und der Überorganisierung der öffentlichen Verhältnisse. Er gesteht zwar zu, geregelte Zustände seien sowohl Voraussetzung als auch Folge der Kultur. Aber er weist nachdrücklich darauf hin, „dass von  einem gewissen Punkt ab das äußere Organisieren auf Kosten des geistigen Lebens geht.“ (KI/30) Je konsequenter die Organisation, desto stärker ihre hemmende Wirkung auf das Produktive und Geistige. Wo wir gar die Wahrheit organisieren wollen, gehen wir zu Grunde (s. LD/185). Ein Mensch, der eigenes Denken praktiziert und damit geistig ein Freier ist, ist den Organisationen etwas Unbequemes und Unheimliches. „Sie fürchten die Persönlichkeit, weil der Geist und die Wahrheit, die sie stumm haben möchten, in ihr zu Worte kommen können.“ (KI/61) Der denkende Mensch „bietet nicht genügend Gewähr, dass er in der Organisation in der gewünschten Weise aufgeht.“ (LD/182) Somit gilt der Satz: „Die Überorganisierung unserer öffentlichen Zustände läuft auf ein Organisieren der Gedankenlosigkeit hinaus.“ (KI/32) „Einmal mit dem Geiste der Oberflächlichkeit erfüllt, üben die Organe, die das geistige Leben unterhalten sollten, ihrerseits eine Rückwirkung auf die Gesellschaft aus, die sie in diesen Zustand brachte, und drängen ihr die Geistlosigkeit auf.“ (KI/25) Diesen Satz finde ich hochaktuell. Durch das Mehrheitsprinzip unserer Demokratie ist eine Rattenfängerei nach Wählerstimmen und damit eine Nivellierung nach unten gegeben, der es statt um geistige Inhalte nur noch um mundgerechte Propaganda geht (was dann noch mit Worten wie „bürgernah“ usw. verbrämt wird!). Zweifellos eine gefährliche Schwäche der Demokratie, Demokratie überall und um jeden Preis zu wollen! Es gibt Dinge, die nicht durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden können. Wo es zum Beispiel um Wahrheit geht, richtet ein Mehrheitsbeschluss nichts aus. Eine ethische Entscheidung kann nicht durch Mehrheitsentscheidung herbeigeführt werden. Schweitzer hatte dies erkannt: „Regeneration der Kultur hat nichts mit Bewegungen zu tun, die den Charakter eines Massenerlebnisses an sich tragen. (…) Das Ethische (…) kommt nur im Einzelnen zustande.“ (KI/69) Klar sieht Schweitzer aber auch die tatsächlichen Zustände: „Politische, religiöse und wirtschaftliche Gemeinschaften sind heute bestrebt, sich so zu gestalten, dass sie die größtmögliche innere Geschlossenheit und damit den höchsten Grad äußerer Wirkungsfähigkeit erlangen. Verfassung, Disziplin und was sonst noch zum Technischen gehört, werden auf eine früher unbekannte Vollkommenheit gebracht. Das Ziel wird erreicht. Aber in demselben Maße hören alle diese Kollektivitäten auf, sich als lebendige Organismen zu bestätigen (…). Ihr inneres Leben verliert an Reichtum und Vielgestaltigkeit, weil die Persönlichkeiten in ihnen notwendig verkümmern.“ (KI30) „Der letzte Entscheid über die Zukunft einer Gesellschaft liegt nicht in der größeren oder geringeren Vollendung ihrer Organisation, sondern in der größeren oder geringeren Wertigkeit ihrer Individuen.“ (KI/59) „Wo die Kollektivitäten stärker auf den Einzelnen einwirken, als er auf sie zurück, entsteht Niedergang.“ (KI60)

Ich glaube, in Schweitzers Erkenntnis über Organisationen liegt mit ein Grund, weshalb er nicht Europa, sondern Afrika für sein unmittelbar menschliches Dienen wählte. Er hatte eingesehen, dass er in Europa nur in Zusammenarbeit mit Organisationen Ersprießliches hätte leisten können. „Mein Sinn ging aber auf ein absolut persönliches und unabhängiges Handeln.“ (LD/74) In der für ihn typischen Konsequenz opferte er seine gesicherte Existenz und seine Karriere und nahm lieber die ungeheuren Anstrengungen auf sich, im Busch Afrikas als Unabhängiger ein Spital zu gründen, als dass er in der Auseinandersetzung mit Bürokratie und Behinderung durch Organisationen in Europa sich aufgerieben hätte. Dazu war er viel zu sehr ein Freier und ein frei Denkender, ein Mann der individuellen Tat (LD/75).
Fast wäre sein Plan deshalb noch an der Pariser Missionsgesellschaft gescheitert, deren Meinung nach er zwar die rechte christliche Liebe, nicht aber den rechten  christlichen Glauben hatte (s. LD/81ff).

Schweitzer war dahin gelangt, „den Niedergang der Kultur als eine Folge des unaufhaltsamen Kraftloswerdens der überlieferten neuzeitlichen Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung zu erkennen.“ (LD/13) Denn für ihn gilt: „Alle Geschehnisse, die sich in den Völkern und der Menschheit ereignen, gehen auf geistige, in der Weltanschauung gegebene Ursachen zurück.“ (LD/125) „Analysiert man den Prozess, in dem Kulturideen und Kulturgesinnungen aufkommen, so ergibt sich als der eigentliche Vorgang, dass irgendwie das Optimistische oder das Ethische der Weltanschauung, oder beides zusammen, größere Überzeugungskraft gewonnen und jene Erscheinungen zur Folge hatten. Beim Kulturniedergange wirkt sich dieselbe Kausalität im Negativen aus. (…) Alle denkbaren Kulturideen und Kulturgesinnungen kommen aus dem Optimismus und der Ethik.“ (KI/73) Schließlich formuliert Schweitzer überspitzt: „Kultur ist das Ergebnis optimistisch-ethischer Weltanschauung.“ (KII/103) Optimistisch muss diese Weltanschauung sein, damit überhaupt eine Bejahung der Welt und des Lebens und ein Interesse besteht, „das Sein, soweit es von uns beeinflussbar ist, auf seinen höchsten Wert zu bringen.“ (KII/104) Nur so ist überhaupt auch materieller Fortschritt denkbar. Sie muss aber zugleich auch ethisch sein, denn für Schweitzer ist offenbar, „dass nur eine ethischen Zielen zustrebende Menschheit des Segens materieller Fortschritte in vollem Maße teilhaftig und der mit ihnen gegebenen Gefahren Herr werden könne.“ (LD/125f) Das Ethische ist für Schweitzer also das Wesentliche: „Der Ausgang der Fahrt hängt nicht davon ab, ob das Schiff etwas schneller oder etwas langsamer vorankommt, ob es segelt oder durch Dampf getrieben wird, sondern davon, ob es seinen Kurs richtig nimmt und ob seine Steuerung in Ordnung bleibt.“ (KII/99)
Den Ansatz zur Regeneration sieht Schweitzer so: „Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder, wenn sie sich beibringen lässt, dass ihr Heil nicht in Maßnahmen, sondern in neuen Gesinnungen besteht. Neue Gesinnungen aber entstehen nur, wenn wahrhaftige und wertvolle Weltanschauung die Individuen in ihren Bann zieht.“ (KII/291) So erwartet er das Heil weder von einer demokratischen noch antidemokratischen, noch von einer sozialistischen oder kommunistischen Umorganisierung der Gesellschaft: „Keine andere Art der wirklichen Erneuerung unserer Welt ist denkbar, als dass wir vorerst unter den alten Verhältnissen neue Menschen werden (…).“ (KI/51) „Das Wiedererwachen des abendländischen Geistes muss also damit beginnen, dass unsere Gebildeten und unsere Ungebildeten sich ihrer Weltanschauungslosigkeit bewusst werden und das Grausige dieses Zustandes empfinden.“ (KI/75)

Was aber ist Weltanschauung? „Der Inbegriff der Gedanken, die die Gesellschaft und der Einzelne über Wesen und Zweck der Welt und über Stellung und Bestimmung der Menschheit und des Menschen in ihr in sich bewegen.“ (KI/63). Der Inhalt der Weltanschauung ist also das Denken über jene elementaren Fragen, die ich an den Anfang des heutigen Abends gestellt habe. Was ist der Sinn meines Daseins und welchen Inhalt soll mein Leben haben? „Was bedeuten die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich selber in der Welt? Was wollen wir in ihr? Was erhoffen wir von ihr?“ (KI/63) Gesinnung ist die innerliche Haltung, die sich mir als persönlich verbindliche Antwort aus dem Ringen mit diesen Sinn-Fragen ergibt.
Noch einmal: Der Weltanschauung geht es darum, den Sinn und das Wesen des Ganzen, des Universums zu erkennen und zu verstehen und daraus in logisch überzeugender Weise den Sinn meiner Existenz und die Ziele der Menschheit abzuleiten, sowie das Wesen meiner selbst und das Wesen des Guten zu erkennen. Eingestanden oder uneingestanden suchen wir immer, wenn wir nach Sinn fragen, uns als sinnvoll im Weltganzen und aus ihm heraus zu verstehen.
Aber ist nicht an diesem Punkt schon die gesamte bisherige Philosophie gescheitert? Ist dieses Scheitern nicht der Grund für den Skeptizismus und die Orientierungslosigkeit unserer Zeit? Schweitzer gibt uns hier eine ernüchternde Auskunft: „Wenn das Denken sich auf den Weg macht, muss es auf alles gefasst sein, auch darauf, dass es beim Nichterkennen anlangt. Aber selbst wenn es unserem Willen zum Wirken beschieden sein sollte, endlos und erfolglos mit der Nichterkenntnis des Sinnes der Welt und des Lebens ringen zu müssen, so ist diese schmerzliche Ernüchterung für ihn dennoch besser als das Verharren in Gedankenlosigkeit. Denn schon diese Ernüchterung bedeutet Läuterung. (…) Das bisherige Denken gedachte, den Sinn des Lebens aus dem Sinn der Welt zu verstehen. Es kann sein, dass wir uns darein schicken müssen, den Sinn der Welt dahingestellt sein zu lassen und unserem Leben aus dem Willen zum Leben, wie er in uns ist, einen Sinn zu geben.“ (KI/78)
Hier kündigt sich nun eine sehr wesentliche Unterscheidung an: Sinn der Welt und Weltanschauung – Sinn des Lebens und Lebensanschauung. In Bezug auf die Erkenntnis des Sinnes der Welt ist Schweitzer radikal skeptisch und pessimistisch. Dazu Schweitzer selbst: „Ich glaube der erste im abendländischen Denken zu sein, der dieses niederschmetternde Ergebnis des Erkennens anzuerkennen wagt und in Bezug auf unser Wissen von der Welt absolut skeptisch ist, ohne damit zugleich auf Welt- und Lebensbejahung und Ethik zu verzichten.“ (KII/86)
In seinem erkenntnistheoretischen Skeptizismus und Pessimismus knüpft Schweitzer an Schopenhauer an, in der Welt- und Lebensbejahung an Nietzsche.
Es ist für ihn ein Akt der Wahrhaftigkeit, die für ihn Basis allen geistigen Lebens ist, sich einzugestehen, „dass wir nichts von der Welt verstehen, sondern von lauter Rätseln umgeben sind.“ (KII/294) „Was wir für die Erde bedeuten, wissen wir nicht. Wie viel weniger dürften wir uns dann anmaßen, dem unendlichen Universum einen auf uns zielenden oder durch unsere Existenz erklärbaren Sinn beilegen zu wollen! (…) Sinnvolles in Sinnlosem, Sinnvolles in Sinnvollem: dies ist das Wesen des Universums.“ (KII/93)

„Unsere Laufbahn beginnen wir in unbefangener Welt- und Lebensbejahung. Der Wille zum Leben, der in uns ist, gibt sie uns als etwas Selbstverständliches ein. Aber wenn dann das Denken erwacht, tauchen die Fragen auf, die uns das bisher Selbstverständliche zum Problem machen. Welchen Sinn deinem Leben geben? Was willst du in der Welt? Bei der damit anhebenden Auseinandersetzung zwischen dem Erkennen und dem Willen zum Leben reden die Tatsachen mit verwirrenden Einsichten auf diesen ein. Mit tausend Erwartungen, sagen sie, lockt uns das Leben, und erfüllte kaum eine. (…) Unruhe, Enttäuschung und Schmerz sind unser Los in der kurzen Spanne Zeit, die zwischen unserem Entstehen und Vergehen liegt. (…) Sinnlosen Ereignissen ist unsere Existenz ausgeliefert und kann von ihnen in jedem Augenblick vernichtet werden. Der Wille zum Leben gibt mir Trieb zum Wirken ein. Aber es ist mit dem Wirken, als ob ich mit dem Pfluge das Meer pflügen und Samen in diese Furchen säen wollte. Was haben die, die vor mir wirkten, erreicht? Was für eine Bedeutung hat das, was sie erstrebt haben, in dem unendlichen Weltgeschehen? Mit all seinen Vorspiegelungen will der Wille zum Leben mich dazu verleiten, mein Dasein weiter zu fristen und Wesen, denen dasselbe armselige Los beschieden ist wie mir, ins Dasein treten zu lassen, damit das Spiel immer weitergehe.“ (KII/298f)

„Weil die Lebensanschauung des europäischen Denkens optimistisch-ethisch war, verlieh man der Weltanschauung, den Tatsachen zum Trotz, denselben Charakter. Der Wille, ohne es sich einzugestehen, vergewaltigte die Erkenntnis. Die Lebensanschauung soufflierte und die Weltanschauung rezitiert.“ (KII/294)

Schweitzer zieht hier einen Schlussstrich: „Nicht dürfen wir weiter in naiver Weise meinen, Lebensanschauung aus Anschauung von der Welt zu empfangen. Nicht dürfen wir weiter insgeheim Lebensanschauung irgendwie zur Anschauung von der Welt erheben. Wir stehen an einem Wendepunkt des Denkens.“ (KII/296)
Dieser Wendepunkt des Denkens ist etwa der kopernikanischen Wende in der Naturwissenschaft vergleichbar. Im ptolemäischen geozentrischen Weltbild waren Mensch und Erde Mittelpunkt der Welt. Das Wollen konnte sich in naiver Weise in der Einheit von Erkennen und Erleben wiederfinden. Es folgte das heliozentrische Weltbild mit der Sonne und unserem Sonnensystem im Mittelpunkt. Als auch dies nicht mehr haltbar war und die Naturwissenschaften den Menschen mehr und mehr an den Rand seines Weltgebäudes drängten, sollte wenigstens unsere Galaxie Mittelpunkt des Kosmos sein. Wie langwierig und schmerzlich vollzog sich die Ablösung der Weltbilder! Sicherlich ging es der mittelalterlichen Kirche bei ihrem Widerstand nicht nur um Machtfragen, sondern sie wollte die so bewährte naive Einheit von Weltanschauung und Weltbild nicht aufgeben, die nun tatsächlich zum immer größeren Problem wurde, bis das naturwissenschaftliche Weltbild für die Frage nach dem Sinn unserer Existenz überhaupt nichts mehr hergab.

Aber die an das Weltbild gestellte Erwartung blieb verhängnisvoll an dieses gekettet und führte mit dessen Wandlung zum Reduktionismus unserer Zeit. Als Wirklichkeit des Menschen gelten auf einmal „nur noch“ chemische Reaktionen und elektrische Strömungen in den Nervenbahnen usw. So fällt es dem Menschen schwer, sich noch als erlebende Existenz ernst zu nehmen, eine Existenz, über die er erfährt, dass sie „nur“ aus „wissenschaftlich“ fassbaren und machbaren Prozessen besteht und deren er sich in seiner Wissenschaftsvergötzung somit bereits beraubt fühlt bzw. sie verdrängen zu müssen glaubt.

Nehmen wir physischen Schmerz: nichts weiter als messbare elektrische Ströme! heißt es da. Dabei werden auch Sie, meine Damen und Herren, lauf aufschreien, wenn ich sie ordentlich mit einer Nadel pieke. Sie erleben dabei nicht elektrische Ströme, sondern den Schmerz als erlebnismäßige Qualität, wie nur Sie und niemand sonst ihn erleben können. Dass sich dabei als eine andere Seite derselben Wirklichkeit Ströme als messbare Quantität abspielen, ist zwar für Ihr Wissen interessant, für Ihr Erleben aber unerheblich: es tut Ihnen deshalb nicht weniger weh! Es gibt also qualitative und quantitative Aspekte. Die einen gelten dem Erleben, dessen Mittelpunkt immer noch nur der erlebende Mensch selbst sein kann – die anderen spielen in wissenschaftlicher Objektivierbarkeit eine Rolle, in der der Mensch aus dem Zentrum ins  x  abstrakter Formeln gerollt ist und die nicht Erklärung, sondern Beschreibung der Welt ist. Der eine Aspekt hat keine Berechtigung, den anderen aufzuheben.

Wir wissen zwar, dass sich die Sonne nicht um die Erde bewegt. Dennoch „erleben“ und beschreiben wir zum Beispiel beim Sonnenuntergang das Untergehen der Sonne. Für uns hat dieses Erlebnis die gleiche Berechtigung wie in anderem Zusammenhang das wissenschaftlich-mathematisch am praktikabelsten durchführbare Modell des modernen Weltbildes. Beides, naives Erleben und wissenschaftliches Weltbild, sind nur verschiedene Interpretationen der Weltwirklichkeit unter völlig verschiedenen Blickwinkeln. Der schizophrene Intellekt kommt nur in umfassenderem, tiefem mystischen Erleben wieder zur höheren Einheit.

„Aus in der Welt abgelesenen Erkenntnissen wollten wir uns eine Lebensanschauung bilden. Es ist uns aber bestimmt, von Überzeugungen, die wir aus innerer Notwendigkeit denken, zu leben.“ (KII/297) „Die Erkenntnis aus meinem Willen zum Leben ist reicher als die, die ich aus der Betrachtung der Welt gewinne.“ (KII/301) „Zur Klarheit über sich selbst kommend, weiß der Wille zum Leben, dass er auf sich selbst gestellt ist. Seine Bestimmung ist, zur Freiheit von der Welt zu gelangen. Das Erkennen der Welt kann ihm nachweisen, dass sein Bestreben, sein eigenes Leben und alles von ihm beeinflussbare Lebendige auf den höchsten Wert zu bringen, in dem Verlauf des Weltganzen problematisch bleibt. Er wird dadurch nicht irre gemacht. Seine Welt- und Lebensbejahung trägt ihren Sinn in sich selbst.“ (KII/303) „Demütig und mutig zieht er seines Weges durch das endlose Chaos der Rätsel, seine geheimnisvolle Bestimmung erfüllend, das Einswerden mit dem unendlichen Willen zum Leben verwirklichend.“ (KII/305)

Resignation in Bezug auf Welterkenntnis ist also für Schweitzer die Vorhalle zur Ethik.

Denken über die Welt führt immer nur zu einem Wissen von außen. Denken über den Willen zum Leben geht schließlich in Erleben über, denn ich selbst bin ja Wille zum Leben. Der denkend und wissend gewordene Wille zum Leben gelangt schließlich zur unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache seines Bewusstseins. Sie lautet: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten vom Leben, das leben will.“ – „Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, die man Lust nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt: also auch in dem Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern kann oder ob er stumm bleibt. – Ethik besteht also darin, dass ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit“ – so Schweitzer – „ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben.“ (KII/330f)
Die Tatsache, dass in der Natur ein Lebewesen sich auf Kosten des anderen durchsetzt, nennt Schweitzer die Selbstentzweiung des Willens zum Leben. Diese aus innerer Notwendigkeit aufzuheben, wo immer es ihm möglich ist, gibt seinem Leben Sinn und Richtung.

Konkret heißt dies, dass Schweitzer uns nicht aus der ständigen Last der Verantwortung unserem denkend gewordenen Willen zum Leben gegenüber entlassen will, immer und überall zu entscheiden, ob ich aus dringender Notwendigkeit oder aus Gedankenlosigkeit Leid oder Tod über anderes Leben bringe. Da ich aber dies nie ganz vermeiden kann, muss ich die aufgeladene „Schuld“ (seit Hans Reiner in diesem Zusammenhang problematischer Begriff) dadurch wettmachen, dass ich mich helfend und fördernd an anderes Leben hingebe.

Die Darstellung der Schweitzerschen Philosophie musste hier natürlich sehr gerafft und aspekthaft geschehen, so, als ob ein Film auf eine Diaserie gebracht worden sei. Harald Steffahn sagt zu dieser Philosophie in seiner eben erschienenen Rowohlt-Monographie über Schweitzer treffend: „Ein Mensch des 20. Jahrhunderts schrieb den Epilog zum 18. Jahrhundert – für seine Zeit.“ (S.95) Ich werde nun auch nicht Schweitzers Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben weiter ausbreiten noch auf ihre philosophische Einordnung und Problematik eingehen. Hier geht es um die ethische Haltung Albert Schweitzers. Diese ethische Haltung war längst gegeben, bevor er sie in seiner Philosophie verbal zu artikulieren versuchte. Er wollte im Denken erhärten, was er bereits als Gewissheit in sich trug – dies darf bei der Beurteilung seines Denkens nicht vergessen werden. Ein anderer Mensch mit anderen Voraussetzungen mag zu anderen Ergebnissen gelangen.

Albert Schweitzer macht uns Mut, uns den elementaren Daseinsfragen zu stellen und uns mit ihnen ebenso radikal wahrhaftig auseinanderzusetzen. Das können wir von ihm lernen.

Allerdings: Wenn Schweitzer aus Wahrhaftigkeit davor warnt, weiterhin die Lebensanschauung zur die Welt interpretierend vergewaltigenden Weltanschauung zu erheben, so scheint er doch in seinem Enthusiasmus übersehen zu haben, dass er bei ebenso redlichem Vorgehen ebenso wenig seine subjektive, unabhängig von Welterkenntnis errungene Lebensanschauung zur allgemein verbindlichen „denknotwendigen“ Norm erheben kann. Einer denkenden Persönlichkeit kann es nicht erspart bleiben, selber um wertvolle Lebensanschauung zu ringen, was wiederum gerade Schweitzer zur Kulturerneuerung unbedingt fordert.

Wie gesagt, seine Haltung war von vornherein bei ihm angelegt. Schon vor seiner Schulzeit erscheint dem kleinen Albert ganz unfassbar, dass er in seinem Abendgebet nur für Menschen beten sollte. Deshalb betete er heimlich noch ein Zusatzgebet, nachdem die Mutter ihm den Gutenachtkuss gegeben hatte: „Lieber Gott. Schütze und segne alles was Odem hat, bewahre es vor allem Übel und lass es ruhig schlafen!“ In seinen Kindheitserinnerungen heißt es: „ So lange ich zurückblicken kann, habe ich unter dem vielen Elend, das ich in der Welt sah, gelitten. Unbefangene jugendliche Lebensfreude habe ich eigentlich nie gekannt.“ (KJ/29) Im Epilog seiner Autobiographie „Aus meinem Leben und Denken“ bestätigt er noch klarer, dass er ein Leidender ist – nicht ein im pathologischen Sinn Leidender, sondern ein Erleidender mit einem intakten höheren Orientierungssinn. Er schreibt: „Zwei Erlebnisse werfen ihre Schatten auf mein Dasein. Das eine besteht in der Einsicht, dass die Welt unerklärlich geheimnisvoll und voller Leid ist; das andere darin, dass ich in eine Zeit des geistigen Niedergangs der Menschheit hineingeboren bin. Mit beiden bin ich durch das Denken, das mich zur ethischen Welt- und Lebensbejahung der Ehrfurcht vor dem Leben geführt hat, fertig geworden.

In ihr hat mein Leben Halt und Richtung gefunden.“ (LD/181) „Auf die Frage, ob ich pessimistisch oder optimistisch sei, antworte ich, dass mein Erkennen pessimistisch und mein Wollen und Hoffen optimistisch ist. – Pessimistisch bin ich darin, dass ich das nach unseren Begriffen Sinnlose des Weltgeschehens in seiner ganzen Schwere erlebe. Nur in ganz seltenen Augenblicken bin ich meines Daseins wirklich froh geworden. Ich konnte nicht anders, als alles Weh, das ich um mich herum sah, dauernd miterleben, nicht nur das der Menschen, sondern auch das der Kreatur. Mich diesem Mit-Leiden zu entziehen, habe ich nie versucht. Es erschien mir selbstverständlich, dass wir alle an der Last von Weh, die auf der Welt liegt, mittragen müssen. (…) So sehr mich das Problem des Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie in Grübeln darüber, sondern hielt mich an den Gedanken, dass es jedem von uns verliehen sei, etwas von diesem Elend zum Aufhören zu bringen. So fand ich mich nach und nach darein, dass das Einzige, was wir an jenem Problem verstehen konnten, dies sei, dass wir unseren Weg als solche, die Erlösung bringen wollen, zu gehen hätten.“ (LD/200)

In diesen letzten Sätzen umreißt Schweitzer klar seine ethische Haltung, die ihn auch sein unmittelbar menschliches Dienen in Lambarene antreten ließ, noch bevor er zur verbalen Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als einer Intuition denkenden Erlebens
– so Otto Spear –  durchgedrungen war. Er war nämlich bereits zwei Jahre in Afrika, als er, wie die denkenden Israeliten zur Zeit Jesu um das Grundgebot aller Sittlichkeit ringend, auf die Formel „Ehrfurcht vor dem Leben“ stieß. Seine philosophische Ethik ist eigentlich denkende Interpretation und Vertiefung seiner leidenden Haltung sowie Rechtfertigung seines aus dieser Haltung folgenden Tuns. Diese Aussage entspricht der Rolle, die Schweitzer selbst dem Denken bei Entstehen der Ethik zuweist: „Etwas, das in einem Instinkt vorgebildet ist, greift es auf, um es auszudehnen und zur Vollkommenheit zu bringen. Es erfasst den Inhalt eines Instinktes und sucht ihn in neuem und konsequenten Verfahren zu verwirklichen.“ (KII/311)

Das Wesen der Ethik ist für ihn grenzenloser Enthusiasmus. „Wohl kommt sie aus dem Denken. Aber sie lässt sich nicht logisch durchführen. Wer die Fahrt zur wahren Ethik antritt, muss darauf gefasst sein, in den Strudeln des Irrationalen herumgewirbelt werden.“ (KII/312)

Der Wille zum Leben, von dem Schweitzer in seiner Ethik spricht, ist niemand anders als er, Schweitzer, selbst. Er selbst ist es, der über sich denkend und wissend wird, er selbst ist es, der auf Welterkenntnis verzichtet und seinen Sinn in sich selbst findet, er selbst ist es, der demütig und mutig seines Weges zieht durch das endlose Chaos der Rätsel, seine geheimnisvolle Bestimmung erfüllend. Seine Ethik ist eine Art Autobiographie seines Denkens. Als solche ist sie weder falsch noch richtig, sondern wahrhaftiges Bekenntnis und Appell und Wille zu Wille.

Es soll noch gesagt werden, was Schweitzer eigentlich unter Denken versteht: nicht ein mathematisch-logisches und abstrakt-funktionales Wenn-Dann-Denken, das den Denkenden selbst aus seinem Denken eliminiert mit all seinen elementaren Regungen, so, als ob  dieser betrachtend neben der Welt stünde, statt sich in ihr zu erleben. Denken ist für Schweitzer die Auseinandersetzung all dessen, was sich in mir an Wollen, das heißt auch an Gefühlen, überhaupt regt, mit all dem, was ich außerhalb von mir von der Welt erkenne. Vernunft ist für Schweitzer ein in die Tiefe der Dinge gehender und die Gesamtheit der Dinge umfassender, in das Gebiet des Willens hinübergreifender Verstand (s. Straßburger Predigten, S.119).

Da es gerade zur Methode der Naturwissenschaft gehört, das betrachtende Subjekt auszuklammern, wurden in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit die Bezeichnungen „subjektiv“ und „objektiv“ zu wertenden Bezeichnungen. Der Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber äußerte 1971 in einem Vortrag: „Ich weiß nicht, ob Ihnen je aufgefallen ist, dass man z.B. Objektivität für eine Tugend hält, Subjektivität aber quasi für etwas Unredliches. Wer subjektiv urteilt, scheint nicht gerecht oder nicht informiert zu sein, er scheint Scheuklappen zu haben, er gilt als engstirnig. … Es ist nicht einseitig, objektiv zu sein, aber es ist einseitig, subjektiv zu sein.“

Mit diesem im Zeitgeist gegebenen Vorurteil gehen wir oft an die eingangs gestellten Sinnfragen heran, wenn wir überhaupt noch an sie herangehen, weshalb auch Albert Schweitzer im zeitgenössischen Denken nur wenig „in“ ist (ebenso wie z.B. der ihm wahlverwandte Goethe, der schon im 2. Buch von „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ die dreifache Ehrfurcht gegen Höheres, Gleiches und Niederes entfaltet hat). Dieses Verlangen nach Objektivität in allen Angelegenheiten resultiert aus dem feigen Wunsch, „aus der persönlichen Haftung für unser Subjektsein durch die Allgemeinverbindlichkeit des Objektiven entlassen werden zu können“, denn „das Allgemeinverbindliche ist oft zugleich auch das Unverbindliche“, so sagt es der Biologe Joachim Illies (Zoologie des Menschen, München 1971, S.86f.). Schweitzer spricht von der Angst des Menschen, dass Eigenes von ihm verlangt werden könnte (s. KI/26). Vielleicht ist dies auch der Grund für unser Ausweichen vor der Sinnfrage, denn es kann auf die Sinnfrage keine „objektive“, unverbindliche, persönlich nicht verpflichtende Antwort geben.

Schweitzers Art zu denken ist also eine Herausforderung gerade an unsere Zeit. Er klammert sich als denkendes Subjekt nicht aus seinem Denken aus, sondern setzt sich als Subjekt mit all seinem Leiden und Wollen mit der Welt auseinander, um sich ihr und dem Zeitgeist schließlich sinngebend entgegenzustellen. Nur so, als persönliche Verpflichtung, lässt sich Sinn finden.

Mit dieser Denkweise Schweitzers hängt zusammen, dass Werner Picht über seine wissenschaftlichen Arbeiten schreiben kann: „Er ist in seinen gelehrten Schriften in einem Grade in persona gegenwärtig, der in der wissenschaftlichen Welt geradezu als ungebührlich gilt.“ (W. Picht: A.S., Wesen und Bedeutung, S.88).

Zum Denken kommt Schweitzer durch einen zutiefst persönlichen Motor: durch Leiden. Der Schmerz über das So-Sein der Welt zwingt ihm das Sehnen nach einer neuen Zeit auf. Typisch für seine Haltung ist, dass er lieber das Leiden mit all seinen Konsequenzen auf sich nimmt, als dass er seine hohen Erwartungen und Ideale auf die vorgefundenen Tatsachen herabschraubt. In dieser Haltung bewahrt Albert Schweitzer die höchste Würde seines Menschseins, denn der Mensch ist zu einem Gutteil, was er glaubt. Bei Goethe lesen wir: „Es gibt keine Lage, die man nicht veredeln könnte entweder durch Leisten oder Dulden.“ In diesem Sinne ist beides typisch für Schweitzer: eine fast übermenschliche Lebensleistung und Demut, beides aus einem ungeheuren Leiden an der Unzulänglichkeit des Bestehenden geboren. Viele andere zerbrechen an diesem Leiden, sie vermögen nicht das Leiden zu „leisten“. Diese Leidensunfähigkeit ist sicher eine Ursache des Drogenmissbrauchs und anderer Fluchterscheinungen in unsere Zeit – Flucht vor der Leistung, die uns das Leiden an der Zeit aufnötigt. Diese Leistung hat nichts mit dem Schlagwort „Leistungsgesellschaft“ zu tun, in der „Leistung“ als mehr oder weniger sinnvolle Betriebsamkeit und Überbeschäftigung verstanden wird. In der Leistung der Leistungsgesellschaft geht es um äußeren Erfolg oder Misserfolg – jede tiefere Besinnung wird durch sie verhindert. In der durch Leiden aufgenötigten Leistung geht es um Sinnerfüllung oder Verzweiflung: tiefere Besinnung ist geradezu ein Teil dieser Leistung!

Wie kann der leidende Schweitzer dennoch verpflichtende Dankbarkeit empfinden für das hohe Glück seiner Jugend und seines ganzen Lebens?

Er kann dies, weil seine Haltung sich nicht an äußerem Erfolg oder Misserfolg oder oberflächlicher Lust oder Unlust orientierte, sondern weil sie ihm das Ringen um Sinnerfüllung oder Verzweiflung auferlegte. Er überwindet das Leiden durch sinnvolles Tun und gelangt so vom naiven zum höheren Glück. Für dieses höhere Glück kommt es weniger darauf an, ob das Leben lust- oder leidvoll ist, als vielmehr darauf, ob es sinnvoll ist. So bezeichnet Schweitzer in einem 1932 am Kölner Rundfunk gehaltenen Vortrag als das größte Glück seines Lebens, dass sich sein beschwerlicher Weg des unmittelbaren und unabhängigen menschlichen Dienens voll verwirklichen ließ.

Auch der Philosoph Nicolai Hartmann bestätigt: „Alles Gelingen ernstlicher Bemühung, alles Lieben und Geliebtwerden, aller Anteil an menschlicher Größe, alle Hingebung an ideelle Ziele oder großes Geschehen zeigt dieselbe eindeutige Richtung der Abhängigkeit: es ist nicht sinnvoll, weil es beglückt, sondern es beglückt, weil es sinnvoll ist“ (zitiert aus „Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens“, Herder-Taschenbuch, Bd. 519, S.76).

Von dieser Sicht aus verstehen wir auch Schweitzers tiefe Sympathie für Johann Sebastian Bach, den er folgendermaßen sah: Seinem anachronistischen Kunstideal treu bleibend, schuf er „in kleinen, engen Verhältnissen, ohne zu ermüden und zu verzagen, ohne die Welt zu rufen, dass sie von seinen Werken Kenntnis nähme, ohne etwas zu tun, sie der Zukunft zu erhalten, einzig bemüht, das Wahre zu schaffen“ aus innerer Notwendigkeit und in Freiheit von der Welt und dem Zeitgeist (zitiert nach E. R. Jacobi: A.S. und die Musik, S.31). Auch hier also nicht die Pole Erfolg – Misserfolg, sondern Sinnerfüllung oder Sinnverfehlung! So meint Schweitzer: „Die Wonne des Schaffen-Könnens, dieses tiefste Glück, das das Dasein dem Menschen zu bieten vermag, hat er genossen, wie vielleicht keiner auf der Welt.“ (So im Bach-Festvortrag Dortmund 1909) Für Schweitzer sind folglich die Werke Bachs Schöpfungen, ja, musikalische Manifestationen jenes sinnerfüllten Geistes des Friedens, der höher ist als alle Vernunft, und jener Freiheit von der Welt, welche Schweitzer in Philosophie und Theologie postuliert.

Wohlgemerkt, vorhin sollte nicht das Leiden verherrlicht werden. Hier geht es um den aus der Spannung zwischen Erkennen und Wollen – Schweitzer spricht sogar von einem Dualismus – entstehenden Leidensdruck, der not-wendig ist, im Leben des einzelnen wie der Gesellschaft eine Veränderung in Gang zu bringen. Denken ist Auseinandersetzung zwischen Wollen und Erkennen. Der Glaube, der Berge versetzt, wird hier geboren, wenn das Wollen über das Erkennen triumphiert. „Die Macht des Ideals ist unberechenbar.“ (KJ/62). „Ideale sind Gedanken. Solange sie nur gedachte Gedanken sind, bleibt die Macht, die in ihnen ist, unwirksam (…). Wirksam wird ihre Macht erst, wenn mit ihnen dies vorgeht, dass das Wesen eines geläuterten Menschen sich mit ihnen verbindet. Die Reife, zu der wir uns zu entwickeln haben, ist die, dass wir an uns arbeiten müssen, immer schlichter, immer wahrhaftiger, immer lauterer, immer friedfertiger, immer sanftmütiger, immer gütiger, immer mitleidiger zu werden. In keine andere Ernüchterung haben wir uns zu ergeben. In ihr härtet sich das weiche Eisen des Jugendidealismus zum Stahl des unverlierbaren Lebensidealismus.“ (KJ/63)

Schweitzer redet hier nicht einer sentimentalen, weinerlich-wabbeligen Weichheit das Wort. Durch viele Begebenheiten seines Alltags ließe sich das bezeugen. Hören wir nur Helmut Thielicke über eine Begegnung: „Als junger Student durfte ich ihn [Schweitzer] zu einem Vortrag begleiten und holte ihn mit dem Wagen ab. In zwei Szenen, die wenige Minuten aufeinander folgten, manifestierte sich das Menschlich-Allzumenschliche ALBERT SCHWEITZERS (…) und versorgte mich mit Antitoxinen, die alles Mythisch-Übersteigerte im Ansatz erstickten: Zuerst herzte und küsste er ein kleines Kind, das ihm auf der Treppe begegnete. Er tat es mit einer Inbrunst und mit Lauten des Entzückens, dass ich spontan darin erfuhr, was völliges, ausfüllendes Glück ist (…). – Der Widerschein des Lächelns war noch kaum von seinem zerklüfteten, bärtigen Gesicht gewichen, als er wenige Augenblicke darauf im Auto sich über irgendein Büroversehen ärgerte und einen Wutanfall von geradezu konvulsivischer Wildheit bekam. Ich dachte mir: jetzt sprengt er den Wagen in die Luft, und drückte mich in die Polster, um Deckung zu nehmen. Dies beides also, überlegte ich mir, ist in ihm beieinander. Was er mit ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ meint, ist wohl anders als ein blasse und verblasene Idee von Sanftheit.“ (H. Thielicke: „Verehrt, verleumdet, verherrlicht“, in: 40. Rundbrief für den Freundeskreis von A. S.)

Folgen wir weiter den Gedanken Schweitzers: „Die Überzeugung, dass wir im Leben darum zu ringen haben, so denkend und so empfindend zu bleiben, wie wir es in der Jugend waren, hat mich wie ein treuer Berater auf meinen Wegen begleitet. Instinktiv habe ich mich dagegen gewehrt, das zu werden, was man gewöhnlich unter einem ‚reifen‘ Menschen versteht. – Der Ausdruck ‚reif‘, auf den Menschen angewandt, war mir und ist mir noch immer etwas Unheimliches. Ich höre dabei die Worte Verarmung, Verkümmerung, Abstumpfung als Dissonanzen miterklingen. Was wir gewöhnlich als Reife an einem Menschen zu sehen bekommen, ist eine resignierte Vernünftigkeit. Einer erwirbt sie sich nach dem Vorbild der anderen, indem er Stück um Stück die Gedanken und Überzeugungen preisgibt, die ihm in seiner Jugend teuer waren. Er glaubte an den Sieg der Wahrheit; jetzt nicht mehr. Er glaubte an die Menschen; jetzt nicht mehr. Er glaubte an das Gute; jetzt nicht mehr. Er eiferte für Gerechtigkeit; jetzt nicht mehr. Er vertraute in die Macht der Gütigkeit und der Friedfertigkeit; jetzt nicht mehr. Er konnte sich begeistern; jetzt nicht mehr. Um besser durch die Fährnisse und Stürme des Lebens zu schiffen, hat er sein Boot erleichtert. Er warf Güter aus, die er für entbehrlich hielt. Aber es war der Mundvorrat und Wasservorrat, dessen er sich entledigte. Nun schifft er leichter dahin, aber als verschmachtender Mensch.“ (KJ/61)

Schweitzer wollte sich um keinen Preis auf diese Weise das Leben erleichtern, er war nicht bereit, mit herabgesetzten Idealen zu wirtschaften und seine Gesinnung preiszugeben. Was hülfe es ihm, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Er wollte das Leben schwer nehmen, denn, so sagte er in einer Adventspredigt bereits im Jahre 1904, schwer sei der Lebenskampf nur für die, die kein Ziel hätten, das ihnen das Leben schwer macht. Er wollte nicht, wie so viele, gedankenlos dahinleben und sich in dumpfer Resignation betäuben und in Rückzug von der Welt Ruhe haben, um das Leben erträglicher zu finden, sondern er selbst wollte mitgestalten helfen, die Welt erträglicher zu machen.

Am Schluss seiner Kindheitserinnerungen lesen wir: „Das Wissen vom Leben, das wir Erwachsene den Jugendlichen mitzuteilen haben, lautet also nicht: ‚Die Wirklichkeit wird schon unter euren Idealen aufräumen*, sondern ‚Wachset in eure Ideale hinein, dass das Leben sie euch nicht nehmen kann.‘ (…) Als einer, der versucht, in seinem Denken und Empfinden jugendlich zu bleiben, habe ich mit den Tatsachen und der Erfahrung um den Glauben an das Gute und Wahre gerungen.“ (KJ/64)

In seiner Kulturphilosophie spricht Schweitzer von einem gewaltigen Glauben an die Macht des ethischen Geistes, der dazu gehört, das, was noch nie da war, das Weltexperiment der Erneuerung der Kultur zu wagen (s. KI/53ff.) Schweitzer wörtlich in der Vorrede zu Kultur und Ethik: „Eine neue Renaissance muss kommen, viel größer als die Renaissance, in der wir aus dem Mittelalter herausschritten: die große Renaissance, in der die Menschheit entdeckt, dass das Ethische die höchste Wahrheit und die höchste Zweckmäßigkeit ist, und damit die Befreiung aus dem armseligen Wirklichkeitssinn erlebt, in dem sie sich dahinschleppte. – Ein schlichter Wegbereiter dieser Renaissance möchte ich sein und den Glauben an eine neue Menschheit als einen Feuerbrand in unsere dunkle Zeit hineinschleudern.“ (KII/95)

Hier geht nun seine Philosophie mit seiner Theologie zusammen:
Sein Hoffen und Sehnen gilt der Verwirklichung des Reiches Gottes, hiermit in der Tradition der Aufklärung stehend. Die Bitte „Dein Reich komme“ ist für ihn nicht mehr die Bitte um Gottes Handeln in einer apokalyptisch hereinbrechenden Umgestaltung der Welt wie in der spätjüdischen Eschatologie. Bereit sein für das Reich Gottes heißt für ihn, bereit sein, hier und jetzt selber Hand anzulegen und Erlösung von Leid zu bringen, wo es möglich ist. Reich Gottes ist für ihn nichts zu Erwartendes, sondern etwas zu Verwirklichendes, nicht Endlösung, sondern ständige Aufgabe. Die Glaubwürdigkeit seines denkenden und handelnden Glaubens hat er erwiesen, indem er hinging und sein Spitaldorf als ein Dorf des Reiches Gottes gründete und hier bis zum letzten Atemzug ausharrte in selbstlosem Kampf gegen das Leid: Seine Ethik hatte Schwielen an den Händen.

Es mag sein, dass Schweitzer jede Zeit, in die er hineingeboren worden wäre, als Zeit des Niedergangs empfunden hätte – selbst das von ihm glorifizierte 18. Jahrhundert hätte ihm sicher auch Anlass dazu geboten. Allein, dass er an der Unvollkommenheit der Welt gelitten hat und sein ganzes Leben daran gab, aktiv dieser Unvollkommenheit entgegenzuwirken, machte ihn zum zutiefst ethischen Menschen.

Wir haben gesehen, dass die Fundamente der ethischen Haltung Albert Schweitzers schon in seiner Kindheit gelegt waren. Es ist ihm nicht gelungen, einen geschlossenen Gesamtbau darauf zu errichten, er schuf kein neues philosophisches System. Aber gerade damit vollbrachte er eine größere Leistung: Er ergab sich aus Wahrhaftigkeit resignierend und zugleich innerlich triumphierend darein, den Dom unvollendet lassen zu müssen. Nur den Chor brachte er fertig. In diesem aber feierte er lebendigen und unaufhörlichen Gottesdienst… (s. KII/335)

Man mag ruhig seine Ethik sektiererisch nachbeten als neues Evangelium oder vom fachphilosophischen Standpunkt aus ignorieren, kritisieren oder gar belächeln: die wahre Größe Albert Schweitzers liegt sicher nicht in seinen theoretischen Schriften, sondern in seiner durchlebten und durchlittenen konsequent ethischen Haltung. Von hierher erweisen sich seine Worte als wahr.

Abkürzungen der Bücher Schweitzers, aus denen zitiert wurde:

  • KI = Kulturphilosophie 1. Teil: Verfall und Wiederaufbau der Kultur (C. H. Beck, München 1960)
  • KII = Kulturphilosophie 2. Teil: Kultur und Ethik (C. H. Beck, München 1960)
  • KJ = Aus meiner Kindheit und Jugendzeit (in „Selbstzeugnisse“; C. H. Beck, München 1959)
  • LD = Aus meinem Leben und Denken (Siebenstern-TB)

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